Das südrussische Belgorod, eine Region an der Grenze zur Ukraine, ist zum Kriegsgebiet geworden. Seit einer Woche haben russische, für die Ukraine kämpfende Truppen die Grenze nach Russland überschritten und sich offenbar in dem Dorf Kosinka festsetzen können. Die Ukraine beschießt die 40 Kilometer von der Grenze entfernte Gebietshauptstadt Belgorod mit Drohnen und Raketen.

Nun haben sich diese Kämpfe offenbar so dramatisch ausgeweitet, dass sich Präsident Wladimir Putin persönlich genötigt sah, sich dazu zu äußern. Bei einem Treffen mit seinem „Wahlteam“ am Mittwoch lobte er „den Mut und die Standhaftigkeit“ in der Region. Jetzt sei es die „erstrangige Aufgabe, die Sicherheit dort wiederherzustellen“.

Kampf gegen russische Partisanen: Putin lässt eigene Dörfer bombardieren

Damit hat die russische Armee offenbar bereits begonnen. Nach Angaben der „Bild“-Zeitung hat sie die Einheiten russischer Abtrünniger mit einer 500 Kilogramm schweren FAB-Bombe angegriffen. Der demnach verheerende Einsatz erfolgte nahe dem russischen Dorf Kosinka.

„Offiziellen russischen Quellen und Militärbloggern zufolge werden die Stadt Belgorod und umliegende Ortschaften von der Ukraine mit Mehrfachraketenwerfern und Artillerie beschossen“, sagt Simon Weiß, Ukraine-Experte bei der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Die von russischer Seite veröffentlichten Aufnahmen zeigen Schäden unter anderem an ziviler Infrastruktur. Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow meldete dieser Tage nach Moskau, die russische Luftabwehr habe in der Woche vor Putins Wahlinszenierung 419 Drohnen und 67 Kurzstreckenraketen abgeschossen. Der Bürgermeister der Kleinstadt Graiworon, fünf Kilometer von der Grenze entfernt, forderte die Einwohner auf: „Treffen Sie die richtige Entscheidung: Verlassen Sie die Stadt rechtzeitig.“

Russland soll inzwischen damit begonnen haben, die Region teils zu evakuieren. „Rund 9000 Kinder, aus Ortschaften, die unmittelbar von den Kampfhandlungen betroffen sind – also Graiworon, Kosinka, Schebekino und teilweise aus Belgorod –, wurden offenbar temporär in nördliche Regionen gebracht“, berichtet Weiß. Zudem wurde der Präsenzunterricht an Schulen und Hochschulen in der Provinzhauptstadt und in den Ortschaften mit Grenznähe abgesagt.

So ticken die Widerstandskämpfer

Hunderte, vielleicht Tausende Russen sollen sich den Ukrainern angeschlossen haben. Einige bezeichnen die Angehörigen der „Legion Freies Russland“, des „Russischen Freiwilligenkorps“ oder des „Sibirischen Bataillons“ als Partisanen, die gegen Putin kämpfen.

„Eine veritable Anzahl dieser russischen Soldaten, die für die Ukraine kämpfen, sind, auch laut westlicher Medienberichte, stramm ultra-rechts und in der Gesellschaft entweder unbekannt oder streng negativ konnotiert“, so Weiß. Eine Anbindung dieser Kämpfer an die russische Opposition im In- und Ausland gäbe es so gut wie nicht.

Bisher könne man nur sagen, dass diese Kämpfer zahlenmäßig kleiner Formationen als Teil der regulären ukrainischen Armee an unterschiedlichen Frontabschnitten gegen die russischen Streitkräfte eingesetzt werden. 

Russlands Verteidigungsminister Sergei Schoigu präsentierte am Mittwoch bei einem Treffen seines Führungsstabes in Moskau gewaltige Zahlen, die sich nicht überprüfen lassen, Experten aber völlig überhöht erscheinen. Demnach habe die Ukraine in den vergangenen Tagen mehr als 3500 Soldaten „bei dem Versuch auf russisches Territorium vorzudringen“ verloren, davon fast 800 Gefallene, zitiert die Online-Plattform „gazeta.ru“ den Minister. Alle Attacken seien zurückgeschlagen worden, behauptete Shoigu.

Ukrainische Armee intensiviert Vorstöße an der Grenze – aus drei Gründen

Bereits im Frühjahr 2023 gab es in der Region ähnliche Vorstöße an der Grenze. Seit etwa zehn Tagen hat sich die ukrainische Armee offenbar entschieden, die Operation in der Region wieder hochzufahren. Aus drei Gründen:

  • Erstens wollte Kiew damit höchstwahrscheinlich die psychologische Wirkung kurz vor der Präsidentschaftswahl nutzen“, erklärt der Experte Weiß.
  • Zweitens ist es der Versuch, russische Truppen an einem neuen Hotspot zu binden, um andere Frontabschnitte, in denen die ukrainische Armee unter Druck steht, zu entlasten.”
  • “Und drittens möchte die ukrainische Armee ihre Stärke und Fähigkeit zu Offensiven auch auf russischem Territorium demonstrieren.“

Hierfür biete sich die Grenzregion zu Belgorod an, da dort eine größere Stadt in Reichweite ukrainischer Artillerie liegt und die ukrainisch-russische Grenze, im Gegensatz zu anderen Frontabschnitten, „weniger bemannt“ sei. „Teilweise wurde diese Grenze auf russischer Seite nur von Wehrpflichtigen, Grenzschützern und einer Art Volksmiliz abgesichert. Das bot aus ukrainischer Sicht gute Voraussetzungen, um einen Vorstoß zu wagen.“

Aktuell keine Gefahr für Kreml – neue Bewegung gegen Putins Krieg jedoch denkbar

„Es ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht erkennbar, dass diese Einheiten eigenständig und mit einer notwendigen Verankerung in Teilen der russischen Gesellschaft und innerhalb russischer Landesgrenzen operieren können“, sagt Weiß. Somit bestünde aus dieser Richtung erst einmal keine Gefahr für den Machterhalt von Wladimir Putin.

Beobachter aus westlichen Sicherheitskreisen bleiben ebenfalls skeptisch: Die durchaus entschlossenen Abtrünnigen reichten derzeit aller Voraussicht nach nicht dafür aus, die Risse im Kreml-Regime wesentlich zu vertiefen.

Der abgebrochene Aufstand der hochprofessionellen Wagner-Söldner habe gezeigt, dass Putins Zirkel „die passiven Massen weitgehend im Griff“ habe, wie ein deutscher Kenner der Lage die Verhältnisse einschätzt.

Letztlich brauche es deutlicheren Widerstand aus „der Intelligenz“, also den Forschungsstätten, der Verwaltung, der Kultur: Militärische Aktionen hätten wohl nur dann durchschlagenden Erfolg, wenn sich Funktionäre aus dem Staatsapparat zunehmend als Verlierer der Geschichte wähnten, es also „viel klarere Absatzbewegungen“ aus der Mittelschicht gebe.

Propagandistisch dürften pro-ukrainische Angriffe russischer Rebellen aber durchaus Kiew helfen, es sei nicht ausgeschlossen, dass sich daraus eine neue Bewegung gegen Putins Krieg entwickle.

Von Viktoria Bräuner, Hannes Heine, Frank Herold

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